
Cindy Sherman: Anti-Fashion
Ein sehr persönlicher Blick der brillanten Fotokünstlerin auf das Thema Mode
Mode ist so hässlich, dass man sie alle sechs Monate ändern muss“, spottete Oscar Wilde
einst. Cindy Sherman muss dieser Satz inspiriert haben, denn in ihren Fotografien treibt sie
die Hässlichkeit der Mode auf die Spitze – und das seit bald einem halben Jahrhundert. Die
Deichtorhallen Hamburg /Sammlung Falckenberg zeigen nun die erste Ausstellung zu dem
Thema: „Cindy Sherman. Anti-Fashion“, mit rund 50 großformatigen Bildern von 1975 bis 2019. Unbedingt sehenswert.
Dürer hat es gemacht, Rembrandt hat es gemacht, Warhol ebenso. Fast jede Künstlerpersön-
lichkeit hat irgendwann in den Spiegel geguckt und gefragt: „Wer bin ich? Was steckt da in
mir? Was treibt mich um?“ Niemand jedoch hat dieses Genre so konsequent und ausschließlich bedient wie Cindy Sherman (69).
Seit ihrem Studium Anfang der 1970er Jahre in New York fotografiert sich die US-Künstlerin in unterschiedlichen Rollen. Die Outfits
sind dabei ganz entscheidend. Das frühste Werk bei Falckenberg zeigt sie als animierte Anziehpuppe zum Ausschneiden in dem
kurzen Schwarz-Weiß-Stummfilm „Doll Clothes“: Als zum Leben erweckte Papierfigur, die scheinbar autonom und emanzipiert ihre
Kleidung wählt – bis eine übergroße Hand sie wieder in den Karton stellt. Man muss nicht Psychologie studiert haben, um die Bot-
schaft der weiblichen Selbst- bzw. Fremdbestimmung darin zu erkennen.
Der Film bleibt ein Ausflug der jungen, feministischen Künstlerin. Sherman konzentriert sich auf die Fotografie und wird Anfang der
1980er Jahre mit ihren aufwendig arrangierten Verkleidungen und Rollenspielen von der Modewelt entdeckt. Dianne Benson, Chefin
der New Yorker Dianne B-Boutiquen, gibt ihr 1983 den ersten Auftrag. Sherman wählt Designerkleidung von Issey Miyake, Gaultier
und Jean-Charles de Castelbajac – und untergräbt mit einem Schlag alle Ideale der Modeindustrie. Statt elegant, glamourös und mit
Sexappeal präsentiert sie Miyakes Bustier („Untitled. #17“) mit verstörend-fieberndem Blick und einem (collagierten) verkrüppelten
Oberkörper ohne Arme. Man darf es als Anspielung auf Contergan-Opfer verstehen und auf die Tatsache, dass Menschen mit Handi-
cap aus der Modewelt ausgeschlossen sind. Kritische „Anti-Werbung“, die Dekonstruktion vorherrschender Mode-Normen, wird ihr
Markenzeichen. In einer Wollkollektion von Dorothée Bis inszeniert sich Sherman derart drastisch mit zerzaustem Haar, leerem Blick
und blutigen Händen, dass die schockierten Auftraggeber die Kampagne als geschäftsschädigend zurückziehen. Der Zenit an Provo-
kation ist aber längst noch nicht erreicht.
In den Folgejahren werden Shermans Rollenspiele immer extremer, morbider, sexualisierter. Serien wie „Fairy Tales“ und „Desasters“
loten die Abgründe des Menschseins aus – inklusive Horror und Ekel. Prothesen und Puppen kommen zum Einsatz. Die Künstlerin
inszeniert sich als Schwein, Monster oder verweste Leiche, unterläuft permanent den „Männlichen Blick“. Das gilt auch für die
„History Porträts“, mit denen sie Anfang der 1990er Jahre endgültig zur bedeutendsten Fotokünstlerin der Gegenwart aufsteigt.
Nun ist es egal, ob die Königin der Kostümierungen mit der Haute Couture flirtet oder sie durch groteske Überzeichnungen torpediert
(nichts passt, alles zu eng, zu lang) – ihre Inszenierungen begeistern international führende Avantgarde-Designer. Nach einem Beitrag
für das Magazin „Harper‘s Bazaar“ 1993 wird sie von Rei Kawakubo für ihr Unternehmen „Comme des Garcons“ engagiert. 2003
schlüpft sie für eine Modestrecke der „British Vogue“ in die Rolle gruseliger Clowns, 2007 nimmt sie in Kleidungsstücken von Balenciaga
Jugend- und Schönheitswahn überkandidelter Society Ladies aufs Korn. Mittlerweile bearbeitet Sherman ihre Fotos digital, die surreale Künstlichkeit treibt sie in ihren „Landschaften“ für Chanel 2010 auf die Spitze. Für Stella McCartneys Männerkollektion befasst sie sich
2017 intensiv mit männlichen Stereotypen und Genderwandel. Das Ergebnis sind fantastisch-fiktionale Bildwelten von stupender Technik
und Brillanz. Die subversive Haltung gegenüber der Modewelt jedoch scheint zunehmend verloren zu gehen.
Isabelle Hofmann
„Cindy Sherman. Anti-Fashion“, bis 3. März 2024, Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg, Wilstorfer Str. 71, 21073 Hamburg-Harburg. Jeden Sa & So 12-17 Uhr. Eintritt frei. Bei Führungen Eintritt 12 € .
Weitere Informationen unter www.deichtorhallen.de