
Thalia Theater Barocco - ein Plädoyer für die Freiheit
Der russische Regisseur Kirill Serebrennikov bringt am Thalia Theater ein neues Projekt heraus: „Barocco“, eine opulente Mischung aus Oper, Schauspiel, Video und Tanz.
Thalia-Intendant Joachim Lux hat diesmal selbst die dramaturgische Begleitung übernommen
„Das Besondere an diesem Projekt ist, dass Gesangs-Vollprofis mit Schauspielern zusammen auftreten“, erklärt Lux. Die Sängerin Nadezhda Pavlova, Sopranistin der Spitzenklasse, gehört
ebenso zum internationalen Ensemble wie der amerikanische Schauspieler Odin Biron, der auch
als Countertenor brilliert. „Schauspiel und Video werden in Spannung gesetzt zu der Musik des Barock“, sagt der Intendant. Werke
von Bach, Händel, Vivaldi, Monteverdi und anderen Komponisten werden auf ganz neue Weise mit dramatischen Ereignissen der
68er-Zeit kombiniert.
Die Idee zu seinem Projekt hatte Kirill Serebrennikov schon 2018 entwickelt, als er wegen angeblicher Veruntreuung in Moskau zu
jahrelangem Hausarrest verurteilt worden war. Die Barockmusik half ihm in dieser Zeit. „Man kann mit dieser engelsgleichen Musik
über den Tod nachdenken, über den Schmerz, über Vergeblichkeit und zugleich über die Schönheit von allem“, resümiert der
Regisseur. Aus dem Hausarrest heraus hatte er „Barocco“ inszeniert und Weihnachten 2018 zur Uraufführung im Moskauer Gogol-
Zentrum gebracht, dessen Leiter er seinerzeit war. Für Hamburg wird die Fassung von damals nun aktualisiert und neu ergänzt.
„Für uns im Westen ist das Barock verbunden mit höfischer Festkultur“, sagt Joachim Lux. „Serebrennikov sieht das aber anders.
Er geht von dem Wortstamm aus dem Portugiesischen aus. ‚Barocco’ bedeutet eine Perle, die anders ist, vielleicht ein bisschen
schräg, die sich nicht eingliedert in die Gleichförmigkeit einer Kette.“ Als Protest gegen Gleichförmigkeit und Unterdrückung sind
auch die Menschen und Ereignisse zu verstehen, die der Regisseur in seinem Projekt aufgreift: die Studenten-Revolte von 1968
in Frankreich, das Attentat auf Andy Warhol in New York, die Selbstverbrennung von Jan Palach in Prag oder der vietnamesischen
Mönche, die einen Diktator stürzen wollten. „In diesem Sinn ein Besonderer war auch Serebrennikov selbst, als er die Produktion
im Hausarrest herausbrachte und nicht frei leben durfte“, sagt Lux. Und der vielfach ausgezeichnete Regisseur selbst erklärt, es
gehe um den Kampf, einzigartig sein zu dürfen, den Kampf gegen ein System der Unterdrückung, wie er es erfahren habe. In der
Überarbeitung der Inszenierung wird sicher auch der Ukraine-Krieg eine Rolle spielen, der den Regisseur veranlasste, nicht nach
Moskau zurückzukehren.
Nicht jeder erinnert sich noch an die Protest-Aktionen der vergangenen Jahre. „Es bleibt aber die Ambivalenz des Feuers, das etwas Wunderschönes und Wärmendes, aber auch etwas Vernichtendes hat“, meint Lux. „Der Mensch, der sich selbst zur Flamme macht –
das ist ein Bild, das unabhängig davon ist, ob ich den historischen Kontext kenne oder nicht.“
Zwei Inszenierungen hat der russische Regisseur im vergangenen Jahr schon für das Thalia Theater gemacht: Gogols „Der Wij“ an
der Gaußstraße und davor Tschechows „Der schwarze Mönch“ im großen Haus. „Das war der absolute Wahnsinn“, erinnert sich der
Intendant. Mitten im russischen Lockdown flog das Thalia-Team 2021 nach Moskau, um dort sechs Wochen lang zu proben, da
Serebrennikov nicht ausreisen durfte. „Das hat aber auch eine besondere Verbindung geschaffen.“ Eine Verbindung, die auch in den
kommenden Spielzeiten fortgesetzt werden soll. „Serebrennikov ist ein Gesamtkunstwerker. Er dreht demnächst einen Film in den
USA, er inszeniert an der Wiener Staatsoper und an der Oper in Paris. Da können wir ein bisschen stolz sein, dass wir das einzige
Theater sind, an dem er Schauspiel macht“, freut sich der Intendant.
Als Produktionen, die eigentlich aus verschiedenen Gründen die Möglichkeiten eines Staatstheaters sprengen, bezeichnet Lux die
Arbeiten von Serebrennikov. So konnte etwa das künstlerisch und finanziell aufwändige „Barocco“ erst durch die Koproduktion mit
der Elbphilharmonie im Rahmen des Internationalen Musikfests verwirklicht werden. Die exakte Arbeitsweise des Regisseurs
erleichtert aber auf jeden Fall die Realisierung seiner Projekte. „Er plant super professionell und weiß genau, was er will.“ Zugleich
ist die Kooperation auch eine Herausforderung für das Haus: Der Thalia-Intendant gibt den russischen Künstlern hier Arbeit, damit
sie nicht dorthin zurückgehen müssen, wo sie bedroht oder zum Militär eingezogen werden. Lux: „Wenn man bei einer grausamen
Weltlage wie dieser als Theater nicht darauf reagiert und zu helfen versucht, dann macht man etwas falsch.“
Interview: Brigitte Ehrich
Angebot für alle Thalia-Fans: Ein Blick hinter die Kulissen!
Wer ab dem 1. Mai 2023 ein Ticket für eine Aufführung im Thalia Theater bucht, kann an einer exklusiven und kostenlosen
Backstage-Führung im Theater teilnehmen – nicht barrierefrei und es müssen Treppen gestiegen werden. Maximal 2 Karten pro
Mitglied (begrenztes Kontingent).
Termin: Freitag, 16. Juni 2023 um 15.00 Uhr, Treffpunkt ist der Haupteingang.
Buchung: Telefon 040 – 22 700 666 oder per Mail an service@inkultur.de.
Karten für "Barocco" finden Sie im Ticketshop