Die Macht des Klangs
Oder: Warum Musik gut tut
Wenn man morgens das Radio anstellt, um während des Frühstücks pflichtbewusst die aktuellen Nachrichten zu hören, stattdessen aber Mozart erklingt, weil vom Vortag noch der Klassik-Sender
eingestellt ist, und man sich nicht lösen kann vom wohligen Klang – dann zeigt sich plötzlich die
Macht der Musik. Sie entspannt uns, sie regt uns an, sie tröstet, macht melancholisch oder einfach glücklich. Musik ist nicht einfach nur eine schöne Nebensache, sie ist für unser Leben essenziell.
Und wenn jemand fragt, ob es angesichts der gegenwärtigen Lage in der Welt überhaupt noch
opportun ist, über die Wichtigkeit von Musik zu sprechen, dem antworte man beherzt: Ja!
Verfolgt man die Thematik weiter, stößt man auf immer neue wissenschaftliche Erkenntnisse
besonders aus der Neurobiologie, die belegen, welch großen Einfluss Musik auf den Menschen
hat, dass Musik geradezu eine Art Ursprache ist, über die jeder verfügt und die sogar an der Ent-
wicklung des menschlichen Gehirns entscheidend beteiligt ist.
Ein menschlicher Fötus im Mutterleib hat wahrscheinlich schon ab der 16. Woche die Fähigkeit
zu hören, gleichzeitig bildet sich im Gehirn das limbische System aus, mit dem der Mensch Gefühle
verarbeitet. Es erscheint daher nicht unmöglich, dass Hören und Fühlen nicht nur gleichzeitig
entstehen, sondern einander sogar bedingen. Kein Wunder also, dass Musik das ganze Spektrum
der Gefühle in uns auslösen kann.
Während der Entwicklung des Gehirns schafft Musik Grundstrukturen für die intellektuellen Fähigkeiten
des Erwachsenen. Und auch im späteren Leben zeigt die Musik ihre Wirkung: Wer sie aktiv ausübt,
also ein Instrument spielt oder singt, verlangsamt den Alterungsprozess des Hirns, Nervenzellen
wachsen, Nervenstränge werden kräftiger und damit schneller. Das bezieht sich auf jede Musikrichtung,
wobei die Klassische Musik aufgrund ihrer hohen Komplexität (heraus)fordernder ist, auf das aktive Zu-
hören und Verarbeiten ausgerichtet.
Was aber für alle Musikrichtungen gilt: Das gemeinsame Hören und Erleben im Konzertsaal verstärkt
die Wirkung nochmals erheblich. Hier entstehen manchmal Momente, in denen das Publikum wie ein
einziger Organismus reagiert, Pulsfrequenz und Atemrhythmus aller gleichen sich an. Dieser Vorgang
konnte tatsächlich wissenschaftlich gemessen werden, genauso wie die erhöhte Ausschüttung des
Glücksbotenstoffes Dopamin bei allen Beteiligten. Geradezu magisch wird ein Konzert dann, wenn
auch die Musiker in diesen Kreis aufgenommen werden und ihrerseits im „größeren Ganzen“ aufgehen.
Irgendwann ist dann leider der letzte beglückende Ton verklungen, denn kaum eine Kunst ist so flüchtig
wie die Musik. Aber das unbeschreibliche Wohlgefühl, das ein Konzert in uns auslöst, das nehmen wir
mit nach Hause.
Quelle: Ullrich Fichtner: Ein Gefühl von Ewigkeit.
In: Der Spiegel, Nr. 14/28.03.2024, S. 40-45